Walther Rathenau - Aphorismen

 

Eine kleine Sammlung seiner besten
Aphorismen, originellsten Definitionen
kraftvollsten Textstellen u. a. m.

 

 

 

Zusammengestellt von D. Malchow 5/2006

__________________________________________________________________________

 

Bei allen Menschen ist zu wissen wichtig, ob sie aus Not, aus Eitelkeit, aus Langeweile oder aus Liebe schaffen.

 

Zu jeder Stunde kannst du dich selbst erkennen: Wage es, die Quellen deines Wollens zu erforschen.

Man hat bisher die negativen Impulse zu wenig beachtet: die Furcht ausgeschlossen zu sein ist meist stärker als die Eitelkeit motivierend, die Furcht vor Langeweile stärker als Geselligkeitsdrang, die Furcht vor Inkorrektheit stärker als Ehrgefühl.

 

Neujahrswunsch an das deutsche Volk: Weniger Rede, mehr Gedanken; weniger Interessen, mehr Gemeinsinn; weniger Vorsatz, mehr Willen; weniger Wissen, mehr Urteil; weniger Zwiespalt, mehr Charakter.

 

Nicht einen Tag lang wird eine Nation anders regiert, als sie regiert zu werden wünscht und somit verdient.

Der Kampf ums Leben ist es nicht, der das Leben vergiftet, sondern der Kampf ums Überflüssige, der Kampf ums Nichts.

Das demokratischste Parlament ist nicht demokratisch, das sozialste nicht sozial, das sachlichste nicht sachlich und das klügste nicht klug. Jedes politische Parlament ist ein notwendiges Übel, wie jeder Monarch, und es ist noch lange fraglich, welches das kleinere ist.

Man sagt: Die Kirche ist die Gemeinschaft der Heiligen. Wäre es nicht möglich, dass unbemerkt die wahre geistige Gemeinschaft und Gemeinde eine andere geworden ist als die der Kirche? Dass sie seit hundert Jahren neben der Kirche hergeht?

Man sollte weniger Abhandlungen schreiben, sondern kurz begründete Vorschläge nackt hinstellen. Wenn nicht der Vorschlag stärker überzeugt als die Begründung, so ist er nichts wert.

Jede Versammlung an sich ist unintellektueller als der Durchschnitt ihrer Mitglieder, deshalb sollen die Mitglieder einer gesetzgebenden Versammlung erheblich intellektueller sein als der Durchschnitt des Volkes.

Ein Mann muß stark genug sein, die Ungleichart des Leibes und Geistes, Gutes und Schicksals zu ertragen und sich aus der Eigenart seiner Unvollkommenheit die Vollkommenheit seiner Eigenart zu schmieden.

Wir stehen vor der Gefahr, die Intelligenz im Proletariat und Nihilismus untertauchen zu sehen.


Wer in Pfennigen zahlt und an den Goldstücken des Partners mäkelt, der darf nicht jammern, wenn jener das Spiel aufgibt.

Mit dem Augenblick, wo man erkannte, dass man Kunst als Selbstzweck machte, war der Verfall eingetreten; in der Antike nicht minder als in der Moderne. Das letzte und perverseste Prinzip geht über „Kunst als Kunst“ noch hinaus. Es heißt „Kunst für Künstler“.

„Die reinste Freude ist die Schadenfreude.“ – Ihr lacht über dies verruchte Wort? Ihr solltet Tränen eurer Seele weinen, dass es ausgesprochen werden konnte.

Je vollkommener und je gegenwärtiger etwas ist, desto schwerer ist es uns, es zu lieben.

Wer nicht begreifen kann, dass die Welt nicht anders als zwecklos sein kann, den frage ich, ob das Allegro einer Symphonie das Adagio zum Zwecke habe, oder ob das ganze Werk des Schlußakkords wegen da sei.

Die Kultur läuft darauf hinaus, seltene, dauernde, einheitliche und tiefe Freuden durch häufige, beschleunigte, vielfältige und seichte Freuden zu ersetzten und ahnt nicht, dass sie die Summe verkleinert, in dem sie die Organe abnutzt.

Kurze Formel: Eleganz ist gemeisterte Verschwendung.

Schreibe so, wie du redest: eine unkünstlerische Forderung. Denn das geschriebene Wort trägt nicht die Färbung des Ausdrucks, der Stimme und der Bewegung. Schreibe so, dass man glaubt, dich reden zu hören: das ist die Rückkehr zur Natur, die aller Kunst geboten sein soll.

In jedem starken menschlichen Gefühl ist sein Gegenteil enthalten. Im Ausbruch der Verzweifelung verkündet sich Trost, im Jubel lauert die Verzweifelung.

Entrüstung ist Bekenntnis der Hilflosigkeit.

Individualität ist das, was mich von der Welt absondert, Liebe das, was mich mit ihr verbindet. Je stärker die Individualität, desto stärker erfordert sie Liebe.

Unsere Kunst leidet am Überfluß der Talente und am Mangel an Persönlichkeiten.

Sich amüsieren noch besser „sich zerstreuen“ heißt: durch Surrogate seine Misere zu vergessen suchen.

Der Amüsable ist der Langeweile unterworfen, mithin der Erhebung und Vertiefung nicht fähig. Er kann weder heiter noch glückselig sein.

Heute ist das Denken entwurzelt. Jedes Ereignis vernichtet Erfahrung; Überlieferung scheint wertlos. Daher die Turbulenz und nüchterne Ekstase unserer Meinungen, der Pöbel weissagt.

Den Tadel der Menschen nahm ich so lange an, bis ich einmal achtete, wen sie lobten.

Der freiwillige, instinktive Respekt der Menge beruht ganz auf Rasseempfindung. Einer edlen weißen Hand gehorchen sie lieber als klugen Argumenten.

Das ursprüngliche Herdenwesen der Menschentiere besteht noch heute, und zwar auf dem Gebiet des Geistes. Wie ehemals das Rudel auf einem Nahrungsplatz solange verharrte, bis das sensitivste Specimen sich auf neue Fährten wagte, so bewegt sich die Menge in gleich bleibenden Denkformen, bis ein Unbefriedigter, Instinktbegabter neue Weideplätze des Geistes sucht und findet.

Die Menge verhöhnt den Aufgebrachten und ruft, er sei außer sich. Der Aufgebrachte verdient dieses Lob nicht, denn er ist in hohem Maße in sich befangen. Die Menge wird aber nicht begreifen, dass außerhalb seiner selbst zu sein das höchste Leben des Geistes bedeutet.

Mittleren Menschen mag man den Mut loben, Edlen die Besonnenheit.

Jede Zeit hat zwei kontrastierende menschliche Ideale: das Zeitsymbol und sein Gegenteil, Friedrich und Werther, Bismarck und Parsifal, Napoleon und Romantik.

Die Gefahr der neuen Tragödie: Bilder statt Handlungen, Ekstase statt Leidenschaft.

Zwei Wassertropfen, im Strome gefangen, werden sich nimmermehr finden. Aber sie finden beiden den Weg zum Meere und sind mehr als vereinigt.

Praktischer Pessimismus hat auf der Erde kein Recht. Wer freiwillig am Leben bleibt, erklärt sich einverstanden, zufrieden mitschuldig.

Daß die Grenze meines Ichs die Haut sei – gemeinster aller Gedanken.

Nicht der Mensch stirbt des Todes, sondern das Individuum. Noch heute lebt der Mensch aus der Zeit der Schöpfung: gestorben sind nur Personen.

Die Propheten der Entwicklung hoffen, dass aus der Pauke mit der Zeit eine Pikkoloflöte und aus dieser eine Violine wird.

Denkfaulheit! Wir möchten am liebsten hinter den letzten Fixstern eine Glasglocke sehen, die das „All“ einschließt. Wenn wir die Welt als wirklich setzen, so gibt es mehr Welten als Lichtätheramtome – ja schlechthin: so ist alles Denkbare wirklich.

Die Vorstellung einer ewigen Dauer der Persönlichkeit ist eine metaphysische Überschätzung der Habgier.

Die Furcht ausgeschlossen zu sein, meist stärker als Eitelkeit motivierend. Die Furcht vor Langeweile stärker als Geselligkeitsdrang. Die Furcht vor Inkorrektheit stärker als Ehrgefühl. Diese negativen Impulse sind bisher zu wenig beachtet worden.

Der Furchtmensch ist scheu und unruhig. Seine hastigen, an Störung gewöhnten Freuden sind kurz, deshalb braucht er Abwechselung. Der Reichtum seines Lebens ist nicht Tiefe, sondern Mannigfalt. Kurz geschlossene, journalière Arbeit, Aperçu und Skizze zieht er vor, gesetzmäßig sich Gestaltendes, sich Entwickelndes liegt ihm fern.

Was ist die sentimentale Seite von Größe und Kleinheit?